Ulmer Münster Bürgerschaft und Klerus

Corona-Krise: Ein Zwischenruf in unruhigen und aufgeregten Zeiten von Pfarrer Christian Löhr

Erinnerung an das Glaubenszeugnis Dietrich Bonhoeffers in Zeiten von Corona – Ein Zwischenruf in unruhigen und aufgeregten Zeiten
Stand: Sonntag Laetare (22. März 2020) bis Sonntag Judica (29. März 2020)

Von alleine wäre ich wohl nicht auf die Idee gekommen, Dietrich Bonhoeffer, dessen Todestag sich am Gründonnerstag diesen Jahres zum 75. Male jährt, in Verbindung zu bringen mit den Ratlosigkeiten, Fragen und Problemen, Befürchtungen und Ängsten, die nicht nur in unserem Land sondern weltweit Menschen derzeit plagen. Doch es gibt im Leben zuweilen seltsame Fügungen. Da wird plötzlich unserem Leben etwas hinzugefügt. So geschah es vor einigen Tagen, als mich auf Umwegen die Nachricht von einem Pfarrer in Holland erreichte, der unter dem Eindruck der Corona-Pandemie und den Maßnahmen, die zu ihrer  Eindämmung verhängt wurden, in einer Mail an seine Gemeinde beschreibt, „wie Dietrich Bonhoeffer sich getröstet und gestärkt fühlte dadurch, dass er sich in Bibellese, Gebet und Gesang zur gleichen Zeit verbunden wusste mit seiner Verlobten, Freunden und Familie“.

Dem holländischen Kollegen diente dieser Hinweis wohl als eine willkommene Bestätigung seines Bemühens, angesichts der z.T. gravierenden Einschränkungen in der direkten persönlichen Kommunikation von Mensch zu Mensch, nun wenigstens verstärkt auf die virtuelle Begegnung (Telefon, Internet etc.) zu setzen. Und wirklich: Was sich bei Bonhoeffer nicht nur in seinem berühmten Text „Von guten Mächten…“ spiegelt, sondern auch mit einer ganzen Reihe von Zitaten aus seinen Briefen mühelos belegt werden kann, ist eine Mut machende Erfahrung, die es Menschen erlaubt, Zeiten zu bestehen und zu überbrücken, in denen der Einzelne ansonsten ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist. Gleiche Erfahrungen haben viele Menschen in außergewöhnlichen Situationen gemacht, nicht nur in Gefängnissen, auch im Krieg und in anderen Notsituationen.

Wir leben zur Zeit in einer durchaus außergewöhnlichen Situation. Kann uns da die Erinnerung an Erfahrungen Dietrich Bonhoeffers aus seiner Zeit der Haft hilfreich sein? Die Antwort lautet: Ja und Nein.

Ja, wenn wir als von Vereinsamung und verhängtem Kontaktverlust Betroffene sind. Es war Bonhoeffers Erfahrung, dass es in solchen Zeiten verhängter Einsamkeit leibhaftige  Gemeinschaft – wir würden heute sagen – virtuell möglich ist. Dazu bedarf es zum einen verbindlicher Rituale und festgelegter Zeiten, zum anderen einer außerhalb seiner selbst weiterhin aktiven Gemeinschaft. Um es ganz praktisch deutlich zu machen: Der in Einsamkeit Gefangene muss wissen, dass am Sonntag um eine bestimmte Zeit draußen außerhalb des Gefängnisses in der „normalen Welt“ Menschen zusammenkommen zum Gebet, zu Wortverkündigung und Sakrament. Dann kann er sich als Teil dieser Gemeinde fühlen. Oder der Gefangene muss mit denen, die ihm in unterschiedlicher Weise verbunden sind, Zeiten festgelegt haben, wo sie an ihn und er an sie denkt, bzw. wo diese Menschen für ihn beten. Das erfordert sowohl von dem Gefangenen als auch von denen, die wie auch immer draußen sind, ein hohes Maß an Disziplin. Diese Rituale und Zeiten müssen dann nämlich auf beiden Seiten eingehalten werden.

Mit anderen Worten: Dass in einer Notsituation Vereinsamung und Kontaktverlust vom Einzelnen ausgehalten und überstanden werden kann, hängt daran, dass auf Seiten der Gemeinschaft, die ihn trägt, die Kontinuität des Lebens, gerade auch des geistlichen Lebens, verbindlich weitergeht. So weit, so klar.

In unserer gegenwärtigen Situation stehen wir da freilich vor einem folgenschweren Problem. Die von Vereinsamung und Kontaktverlust Betroffenen haben das bergende Gegenüber einer normal funktionierenden Gemeinschaft nicht, weil nichts mehr normal funktioniert und die leibhaftige Basis der Gemeinschaft gänzlich fehlt. Das weitgehende Herunterfahren der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation und ihre Verlagerung auf die virtuelle und elektronische Ebene beschädigt das soziale Miteinander der Menschen grundsätzlich. Daran ändern auch die vielen, im Moment und für eine gewisse Zeit durchaus hilfreichen kreativen Projekte nichts, was sich schon allein daran zeigt, dass diese Projekte eben nicht auf Dauer gestellt werden können. Hinzu kommt noch, dass ein Teil der gewünschten Zielgruppe aus technischen Gründen gar nicht erreicht wird. Wirklich gefährlich wird es, wenn die aus der Not des Social-Distancing geborenen Maßnahmen zu Modellen für den Alltag nach der Notzeit werden, etwa im Bildungsbereich die virtuelle Schulstunde / Verlust des persönlichen Lehrer-Schüler-Verhältnisses oder im Blick auf unser kirchliches Leben die „virtuelle Kirche“. Schon gibt es Stimmen, die das propagieren.

Damit sind wir bei dem Nein auf die Frage, ob die Erfahrungen Bonhoeffers aus seiner Haftzeit hilfreich sein können für unsere gegenwärtige Situation. Nutzt man sie als eine mögliche Begründung oder gar als Legitimierung für ein kirchliches Handeln, dass die leibhaftige Gemeinschaft weitestgehend außer Kraft setzt, taugen Bonhoeffers Erfahrungen nicht. Unsere Situation einer allgemeinen Bedrohung stellt ja gerade jene Kontinuität geistlichen Handelns in Frage, die die Voraussetzung für die Erfahrung einer befristeten virtuellen spirituellen Gemeinschaft ist.

Die Herausforderung für das Entscheiden und Handeln unserer Kirchen in Notzeiten besteht also darin, jenes Kontinuum geistlichen Lebens in seinen Grundvollzügen zu erhalten und zu praktizieren, damit die jeweils von Einsamkeit oder verfügtem Kontaktverlust Betroffenen tatsächlich für eine befristete Zeit eine bergende spirituelle Gemeinschaft virtuell erfahren können. Über eine befristete Zeit hinaus ist zudem grundsätzlich zu fragen, wie wir leibhaftiges gemeinschaftliches Leben so gestalten, dass es gegenüber Belastungen, wie wir sie jetzt erleben, resistenter wird.

Ein erster Schritt, dieser Herausforderung zu begegnen, besteht darin, die Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden, so genau wie derzeit möglich zu beschreiben und zu analysieren.

Wir erleben in der Corona-Krise ein verfügtes oder verhängtes Geschehen, das wir erklärtermaßen nicht in der Hand haben. Und wir erleben es so, dass wir unsere Ohnmacht diesem Geschehen gegenüber nicht mehr verdrängen oder uns darüber hinweg- täuschen können. Deshalb rührt diese Krise an unser Selbstverständnis, wie wir es in unserem Teil der Welt definieren. Dieses Selbstverständnis besagt: Wir bestimmen über unser Leben selbst. Dazu müssen wir es im Griff haben. Dazu wiederum brauchen Berechenbarkeit aller Ereignisse und Sicherheit.

Weil eben das für alle sichtbar grundsätzlich in Frage gestellt ist, haben wir das Empfinden, wir stünden in einer völlig unvergleichlichen Situation.

Die politischen Krisen sind mit der gegenwärtigen Lage nicht zu vergleichen, weil sie für unser Verständnis  von Menschen gemacht sind. D.h. zugleich: Sie müssten also auch von Menschen beherrschbar und lösbar sein.

Mit der Klimakrise verhält es sich etwas anders. Tatsächlich hätte sie uns schon etwas nachdrücklicher daran erinnern können, dass wir Menschen in Unwägbarkeiten eingebunden sind, für die wir individuell nur begrenzt verantwortlich sind und die wir als Einzelne sicher nicht beherrschen. Aber es fehlt dafür immer noch die Erfahrung ganz persönlicher und unmittelbarer Betroffenheit

Nun aber haben wir es mit einem Geschehen zu tun, von dem wir viel zu wenig wissen und auf das wir nur in der Versuch-Irrtum-Methode reagieren können. Dabei ist es für jeden offenkundig, dass wir dieses Geschehen nicht beherrschen.

Unsere Kirchen traf dieses Geschehen offenbar genauso unerwartet und unvorbereitet wie die Gesellschaft. Dementsprechend fielen die ersten Reaktionen aus. Sie folgten zunächst notgedrungen den staatlichen Maßnahmen: weitgehende Stilllegung alles gemeinschaftlichen Lebens, Social-Distancing und Verweis auf Telefonseelsorge und die Angebote in den öffentlichen Medien und im Internet. Man traute sich vielerorts nicht einmal, die Kirchen offen zu halten. Hinter fast all diesen Entscheidungen und Maßnahmen standen die Angst vor der unbekannten und unberechenbaren Pandemie und die Sorge um die Menschen. „In der Welt habt ihr Angst“ – sagt Jesus nüchtern. Auch uns überkam zunächst jedenfalls die Angst. Was also in der Welt schon immer gilt, es galt auch in der Kirche und  weithin unter uns Christen, wo wir uns doch mindestens noch der Fortsetzung dieses Jesuswortes hätten erinnern müssen: „Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“ – eigentlich ein hinreichender Grund, ganz spontan über kreastive Lösungen für eine kontrollierte Öffnung von Gebetsräumen nachzudenken und nicht für deren totale Schließung zu votieren. Insofern waren die ersten von mir wahrgenommenen Reaktionen und Empfehlungen unserer Kirchen angesichts der Corona-Pandemie zutiefst beunruhigend. Und sie konnten traurig machen, denn sie blieben im ersten Augenblick der Welt und auch unseren Gemeinden das uns gebotene Zeugnis schuldig. Dass es nun an der Basis der christlichen Gemeinden allerlei kreative Versuche und entsprechende Angebote gibt, stimmt hoffnungsvoll.

Ein Problem zeigte sich sofort. Wer hätte gedacht, dass unsere Kirchen sich so schnell und so problemlos den staatlichen Festlegungen in dieser Krise anpassen, sie zuweilen sogar noch in der Tendenz übertreffen würden. Das mochte noch zu verstehen sein in den Bereichen, wo Kirche in unserem Lande quasi im Auftrag des Staates handelt (beispielsweise bei KiTas, in Bildungseinrichtungen und Krankenhäusern). Indessen scheint sich manchen Ortes die Erkenntnis durchzusetzen, dass wir zumindest bei unserem ureigenen Auftrag, der Verkündigung des Evangeliums und der Seelsorge, doch auch inhaltlich eigene Überlegungen anstellen müssten, um sodann in freier Verantwortung eigene kreative Entscheidungen im Rahmen der für alle verbindlichen Gesetze des Staates treffen. Der Tatbestand, dass auch die höchste Festzeit des Kirchenjahres (Karfreitag und Ostern) davon betroffen ist, erhöht nur die Dringlichkeit dieses Anliegens. Wie sollen wir die leibhaftige Auferstehung unseres Herrn vom Tode glaubwürdig feiern, wenn wir uns auf unsere Stuben zurückziehen und auf virtuelle Gemeinschaft setzen, die sich auf keine leibhafte Gemeinschaft stützen kann? Goethe wusste immerhin: „Denn sie sind selber auferstanden…“

Tatsache ist, dass bisher (Stand 19. März 2020) kein substantielles eigenständiges Wort der Kirchen in dieser Angelegenheit zu verzeichnen ist. Zwar werden erste kreative Entscheidungen auf regionaler Ebene praktiziert, doch die offiziellen Erklärungen verschiedener Kirchenleitungen sind eher in einem restriktiven, als einem ermutigenden Ton gehalten. Von einer geistlich-theologischen Antwort auf die gegenwärtige Krise sind wir offensichtlich meilenweit entfernt. Ja sie ist nicht einmal in Ansätzen zu erkennen. Das offenbart eine besorgniserregende geistliche Inkompetenz. Zudem befördern die bisher eingeleiteten Entscheidungen und Maßnahmen ein Verständnis des christlichen Glaubens als Privatangelegenheit jedes Einzelnen unter Verzicht auf gemeinschaftliches Leben. Damit sind die Grundfesten christlichen Glaubens in Frage gestellt. Gemeinschaft gibt es nicht virtuell. Sie muss leibhaftig sein. Nächstenliebe ist ein Geschehen, das im leibhaftigen Gegenüber seinen Grund und Ursprung hat und sich nicht in einer Facebook-Gruppe erschöpft.

Insofern wäre es konsequent gewesen, wenn seitens der leitenden Verantwortlichen in  unseren Kirchen und Gemeinden gesagt worden wäre: Wir bekennen, dass wir im Moment nichts Besseres und auch nichts Anderes wissen, als die Welt. Was unsere Kirchen an Maßnahmen eingeleitet und empfohlen haben, und was nun in den Gemeinden mal einheitlich mal differenziert umgesetzt werden soll, ist im Wesentlichen aus Angst geboren. Das ist ohne Zweifel eine Schuld, an der wir tragen. Da wir als große gesellschaftliche Gruppe / Institution aber auch Verantwortung für Menschen und deren Wohlergehen tragen, müssen wir handeln, selbst wenn wir ein eigenes Wort noch nicht haben, notfalls eben erst einmal in Übereinstimmung mit den Maßnahmen dieser Welt.  Wir hoffen auf und bitten um Erleuchtung durch Gottes guten Geist und halten uns offen für den Weg, den Gott uns führen wird.

Doch was geschah?

In vielen über die Medien verbreiteten Äußerungen wurde versucht, dieses dem Mainstream der Welt folgende Agieren theologisch zu verbrämen und zu rechtfertigen. Da war und ist von der Fürsorge für die Schwächsten die Rede. Das klingt gut, irgendwie so nach Nächstenliebe und Verantwortung, ist aber genau besehen ein mehr als fadenscheiniges Argument. Denn die angeblich oder gar tatsächlich Schwächsten sind eine Risikogruppe leider auch dann noch, wenn Corona mit Gottes Hilfe überstanden sein wird. Zu befürchten ist freilich, dass sich dann kaum mehr einer um diese Risikogruppe kümmert. Und all zu oft wurde das dann auch noch mit einem Bibelwort garniert. Man zitierte die einschlägigen Stellen aus dem Römerbrief und dem 1.Korintherbrief. Doch dort ist von etwas ganz anderem die Rede.

Ebenso verhängnisvoll und unbedacht war und ist es, den Begriff der Solidarität semantisch so umzudeuten, dass dieses wichtige Wort kompatibel wird mit zwischenmenschlichem Auf-Abstand-Gehen (Social-Distancing). Praktisch kann es sein , dass dieses Social-Distancing im Augenblick nötig ist. Diesen Notzustand aber als Ausdruck der heute gebotenen Solidarität auszugeben ist nichts anderes als Schönrederei. Der Mangel wird in einen Normalzustand, ja sogar in eine gute Sache umgedeutet und damit faktisch die Entsolidarisierung der Gesellschaft gefördert. Natürlich sollte das bloß vorübergehend und räumlich begrenzt geschehen. Doch die Hoffnung darauf dürfte auf Sand gebaut sein wenn gleichzeitig das Lob der indirekten Kommunikation (über das Netz etc.) gesungen wird. Zu fürchten ist, dass wir sehr, sehr viel Kraft brauchen werden, um die lebensnotwendige direkte zwischenmenschliche und leibhaftige Kommunikation in ihrem unersetzlichen Stellenwert innerhalb der verschiedenen Strukturen unseres gesellschaftlichen Lebens wieder neu zu begreifen und vor allem zu praktizieren. Der Mensch verlernt nur allzu schnell, ein Mensch (d.h. ein gemeinschaftsorientiertes  Wesen!)zu sein.

Mit all solchen Begründungen betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns.

Spätestens an dieser Stelle sind wir nun doch wieder bei Dietrich Bonhoeffer – freilich an einer ganz anderen Stelle seines Lebenszeugnisses, bei seinen Überlegungen zum Wort der Kirche an die Welt und bei seinem Verständnis von der verantwortlichen, freien Tat, die das Bekenntnis der Schuld einschließt. Hier denke ich könnte uns das Lebenszeugnis Dietrich Bonhoeffers wirklich hilfreich sein. Es ermutigt zu entschlossenem Handeln auch und gerade angesichts der Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit unseres Irrens und befreit uns vom Zwang der Rechtfertigung unseres Handelns. Zu unserem Handeln zu stehen ohne es zu rechtfertigen, auch und gerade wenn es vorläufig, aus Furcht geboren oder gar schuldhaft ist, weil wir es (noch) nicht besser wissen und dieses Noch-nicht-Wissen als Schuld anzunehmen, zugleich aber auch offen zu bleiben für den Weg, den Gott mit uns durch unsere Schuld und unser Versagen geht – das können wir in der Tat von Dietrich Bonhoeffer lernen.

Also:

Verzichten wir auf die Begründungen und Rechtfertigungsversuche, die höchstens dazu dienen, unser Gewissen zu beruhigen, und bekennen stattdessen unseren Kleinglauben – vielleicht durchaus im Sinne der diesjährigen Jahreslosung:  „Wir möchten glauben, aber wir schaffen es nicht!“, wobei wir uns immer bewusst machen: In der Welt haben wir Angst. Uns ist (noch) nichts Besseres eingefallen.

Halten wir uns und unsere Gemeinden offen für das Bessere, wenn es uns denn Gottes guter Geist zu seiner Zeit offenbart, und dafür, dieses Bessere dann entschlossen umzusetzen.

Werden wir nicht müde, immer aufs Neue um Gottes guten Geist zu bitten. Immerhin folgt dem Bekenntnis die Bitte an unseren Herrn: Hilf  meinem Unglauben!

Und nehmen wir schon jetzt vertrauensvoll die Zukunft in den Blick, denn da werden wir über einige Dinge noch einmal ganz neu nachdenken müssen – gerade auch als Kirche, wenn wir nicht vollends unglaubwürdig werden wollen.

Grundsätzlich wird es darum gehen, mit dem leben zu lernen, was wir jetzt als eine uns und unseren Glauben  erschütternde Belastung erfahren. Durch die gegenwärtige Krise wird die prinzipielle Unverfügbarkeit unseres eigenen Lebens und seine Verletzlichkeit unmittelbar erfahrbar. Für Christen sollte das eigentlich nichts Neues sein. Die Annahme, dass wir unser Leben im Griff haben müssten und dass solches möglich ist, weil alles berechenbar ist,  gehört jedenfalls nicht zum spezifisch christlichen Menschenbild. Und dass auch das von Menschen Gemachte uns aus der Hand gleiten könnte, haben die Dichter und Propheten immer wieder warnend beschworen.

Wer sich als Geschöpf begreift und wer sein Leben als Geschenk und Aufgabe versteht, müsste diese Unverfügbarkeit annehmen und seiner Grenzen eingedenk sein, zugleich aber das jeweils Gebotene tun im Vertrauen auf einen Größeren, der uns und diese ganze Welt in seiner Hand hält.

Vielleicht haben wir das in unserer Verkündigung und in unserer eigenen Glaubenspraxis nicht genügend zum Tragen gebracht, so dass dies nun neu zu lernen und zu buchstabieren die Herausforderung ist, vor der wir stehen.

Dazu kommen eine Reihe von Strukturen und Grundbeziehungen unseres alltäglichen Lebens, die angesichts der jetzt gemachten Erfahrungen neu justiert werden müssen.

Dazu gehört das Abhängigkeitsverhältnis der Kirche vom Staat. Bisher haben wir das immer nur im Blick auf die politischen Verhältnisse buchstabiert. Wie wir jetzt sehen, reicht das nicht.

Dazu gehört ein glaubwürdiges Zeugnis vom Grund unseres Lebens – allezeit Rechenschaft geben von der Hoffnung, die in uns lebt. Das war ja eigentlich für diese Fastenzeit vorgegeben: „Zuversicht! 7 Wochen ohne Pessimismus“. Wer denkt da jetzt noch dran?

Dazu gehört das Nachdenken über sinnvolle Formen der Globalisierung und Digitalisierung samt einer Neubewertung dessen, was uns Gemeinschaft eigentlich bedeutet, welche Formen leibhafter Gemeinschaft unverzichtbar sind, inklusive der Frage nach dem Wert des Gottesdienstes.

Bei alledem geht es um die Grundfrage, wie wir ein gedeihliches, gemeinschaftsbezogenes Leben in persönlicher Freiheit und tätiger Verantwortung für das Gemeinwohl gestalten können.

Pfarrer i. R. Dr. Christian Löhr
Gotthardt-Kirchplatz 14
14770 Brandenburg
Tel: 03381  22 62 80
Stand Sonntag Laetare, 22. März 2020

Mit freundlicher Genehmigung von Pfarrer Dr. Christian Löhr aus dem Bonhoeffer Rundbrief Nr. 126 vom April 2020 der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft (ibg) entnommen.

Ein Gedanke zu „Corona-Krise: Ein Zwischenruf in unruhigen und aufgeregten Zeiten von Pfarrer Christian Löhr“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert