„Gott ereignet sich in der lebendigen, wahrnehmenden und achtsamen Beziehung zwischen dem Ich und dem Du.“
Live-Gottesdienst – 16.08.2020 – Heilandskirche Stuttgart
Hören wir zunächst auf den Predigttext aus Römer 11, 25-32:
Ganz Israel wird gerettet werden
25 ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist.
26 Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob.
27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«
28 Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.
29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.
30 Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams,
31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.
32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.
Liebe Gemeinde,
letzte Woche hatte ich ein Gespräch, in dem jemand zum Ausdruck brachte, warum sie in jungen Jahren aus der Kirche ausgetreten war.
Diese Person hatte sich mit Leid und Ungerechtigkeit, mit der Tragik des Lebens auseinandergesetzt und beim Pfarrer am Ort eine Antwort erhofft. Aber zwischen den beiden hat es nicht geklappt und aus Ärger, über die nicht befriedigende Antwort und seine Art mit der Fragenden umzugehen, ist sie dann ausgetreten.
Ja, wer sich diese Welt mit offenen Augen ansieht und mit wachem Geist durch die Zeit geht?! Da kann Mann und Frau schon ins ernsthafte und begründete Zweifeln kommen, oder? Gott, wo bist du und wenn ja, mit wem?
Und welche begreifbaren Antworten und praktikable Hilfestellungen bieten Kirche und Theologie da? Womit kann Frau und Mann etwas in ihrem und seinem Leben anfangen?
Im Römerbrief breitet Paulus seine Rechtfertigungslehre aus. Hier in unserem Predigttext heute, beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Juden und Christen untereinander und zu Gott. Wir wissen: Bis heute ein wechselvolles und tragisches Verhältnis voll von Ängsten und daraus entstandener, unfassbarer Schuld.
Mit der Rechtfertigungslehre des Paulus könnte man eigentlich meinen, aber spätestens seit Luther, nun wird alles gut. Wir wissen, dem ist nicht so. Der schrecklichste Genozid wurde aus dem Verhältnis von Juden- und Christentum geboren, den man sich nur vorstellen kann.
Und wer glaubt, das ist doch alles kalter Kaffee und lange her, das wird doch nicht wieder passieren, so dumm wird doch niemand sein, der ist auf dem besten Weg zuzulassen, dass sich wiederholt, was sich nicht wiederholen darf.
Rassismus, Populismus, Protektionismus, Manipulation, Desinformation, Despotismus, Verschwörungstheorien, Reichsbürger, rechte Gesinnung, Pandemie, lockdown, Disruption und Transformation, Profitgier, Umweltzerstörung, Klimakrise, Spaltung der Gesellschaft, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit, Ressourcenknappheit und -Verschwendung.
Nein, ich höre an dieser Stelle auf, denn definitiv gehöre ich nicht zu den Anhängern von Apokalypse und Untergang. Ich gehöre aber auch nicht zu den „Alles-wird-gut“-Blinden, die an jedem Tag Halleluja shouten und Prace the Lord jubilieren, sich in ihre Wohlfühl-Blase zurückziehen, während daneben alles den Bach runtergeht.
Daher: Holzauge sei wachsam ..
Um dieses wachsam und achtsam sein geht es mir, trotz aller eigener Unzulänglichkeit, der ich mir immer wieder schmerzlich bewusst werde, wenn ich mal wieder voll ins Klo gegriffen habe.
Ja, wie ist das nun mit der Frage nach all der Ungerechtigkeit des Lebens auf dieser Erde, dem Schicksal, dass uns und andere so oft ereilt? Darf ich das Wort Schicksal als gläubiger Christ überhaupt in den Mund nehmen? Hat doch Gotte alles in der Hand und alles im Griff. Lässt nur zu, was ich auch zu tragen im Stande bin und mir zum Besten, gar Heil dient?!
Ja, ich gebe zu, damit habe ich mein Problem und stelle mich an die Seite der eingangs Fragenden: Wie kann Gott das alles zulassen?
Vom Judentum haben wir das wunderbare Prinzip Gott – der Gott Jakobs und Israels. Mit Christus, auch der Gott der Heiden und somit auch unser Gott.
Und da fängt es dann auch schon an. Wer ist nun besser? Wir oder die? Aber nein, wir haben es doch nur besser. Die haben Christus halt nicht angenommen – selbst schuld.
Paulus wehrt dem mit seinen Worten: „.. nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. ..“
Und ich glaube, zum Schluss, wird es uns und allen auch nicht anders ergehen: „Sind sie Geliebte“.
Egal, ob wir pietistisch fleißig, gewissenhaft und strebsam sind, oder hier schon 2cm über dem Boden schwebend erlöst, zum Schluss ist es doch nur dieses Eine, was uns wirklich frei macht: das unbedingte Angenommensein von und vor Gott unserem Schöpfer.
Frei von der Angst, die uns so oft in die Enge treibt. Uns das tun lässt, was wir doch so gar nicht tun wollten. Uns glauben lässt, dass wenn wir moralisch besser, höher stehen, wir das Heil uns erwerben, den Verdienst einfordern, uns von den anderen absetzen könnten.
Frei von der Angst, uns könnte das Schicksal treffen oder Gottes Strafgericht oder der von IHM uns zugedachte Lebensauftrag könnte unser eigenes Vermögen und Zutrauen übersteigen.
Aus Angst wird Schuld geboren. Aus Angst werden wir schuldig.
Gott macht uns frei davon, indem er uns von jeher geliebt hat und liebt.
Gott macht uns frei davon, indem er unserem Unvermögen seine Gnadengabe beilegt.
Und dieses frei sein von Angst und Druck, von Erwartungen und Überforderungen der Moral, der Dogmen, der Religion und der Gesellschaft, stellt uns auf einen festen Grund.
Gott liebt dich – bedingungslos.
In allen deinen Verstrickungen, Verirrungen und deiner Verwirrung.
Du bist sein geliebtes Geschöpf. Du musst dich nicht und nichts beweisen. Du darfst sein. Du selbst, darfst du sein. Und er liebt dich genau so.
Dieses von jeher Angenommensein vor und von Gott macht uns frei von Angst und Schuld.
Dieses von jeher Angenommensein vor und von Gott macht uns frei in heilsame Beziehung zu treten.
Und das hat auch die eingangs an ihrer Kirche Verzweifelnde erfahren dürfen. In der erlebten Realität der Diakonie, der tätigen Nächstenliebe, hat sich Gott für sie ereignet. Ist Gott präsent geworden und sie ist auf dem Weg sich wieder zu versöhnen mit ihrer Kirche.
Das Prinzip Gott – der Gott Jakobs und Israels.
Vor Kurzem wurde ich sinngemäß gefragt:
Mit wem redest du denn über deine Sorgen und Fragen. Redest du etwas mit Gott?
Ich habe eine Antwort gesucht und habe viele Ansätze und Ahnungen gefunden:
Gott ereignet sich in der Beziehung zwischen dem Ich und dem Du.
Gott redet in der Stille. Im Hören und Wahrnehmen auf mein leises und scheues Inneres. Im Achten auf mein Selbst.
Gott redet in so manchen Büchern zu und mit mir. Ja, auch in der Schrift. Aber auch indem ich mich z. B. mit Schriften von Martin Buber, Bonhoeffer und Drewermann auseinandersetze, mit diesen ins Gespräch gehe. Oder was habe Sie zuletzt gelesen, wo sich in Ihnen etwas bewegt hat, Sie ins Gespräch gekommen sind?
Gott redet durch die Kunst, in Lied und Bild zu und mit mir. Dort kommt zum Ausdruck, was keine Worte zu sagen vermögen. Z.B. in den Bilderzyklen von Marc Chagall zu Bibel. Oder den Kirchen- und Synagogenfenstern, wo seine Bilder mit dem Bauwerk verschmelzen.
Gott redet mit mir, wenn ich die Natur, seine wunderbare Schöpfung wahrnehme und achtsam mit ihr als meinem mir gegebenen Lebensraum umgehe.
So redet Gott mit mir und so kann auch ich mit IHM reden;
in der Freiheit eines Christenmenschen, frei von Angst und Schuld.
Da ist kein Unterschied, „kein Jude noch Grieche“, „kein Knecht noch Freier“, „kein Mann noch Weib“.
Gott ereignet sich in der lebendigen, wahrnehmenden und achtsamen Beziehung zwischen dem Ich und dem Du.
Amen
Es gilt das gesprochene Wort.
Andreas Ponto – Stuttgart, 2020-08-18